Aphorismensammlung Hans Arndt III

Teil 1 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt
Teil 2 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt
Teil 3 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt

 

Verlagert

Als er die Frauen zu kennen glaubte, interessierte ihn nurmehr ihre Jugend.

Es strengte ihn nicht an, denn sie war ihm in der Liebe immer eine Handbreit voraus.

Sie fiel ihm um den Hals, weniger aus Liebe als eines Stützpunktes wegen.

Er nahm sie leidenschaftlich und ließ sie nur ungern.

Das Talent in ihm forderte die Höhe, er selbst aber zog die Ebene vor.

*

Diskrete Hinweise

Schlagfertigkeit ist die schnellste Bestätigung des Selbstgefühls.

Wer seine Eltern überschätzt, tut ihnen bitter unrecht.

Der kürzeste Weg, etwas in Erfahrung zu bringen, ist die direkte Frage.

*

Konvention

Klatsch ist die schnellste Regenerierung auf Kosten anderer.

Der Bürger erlaubt sich leicht eine unverpflichtende Rührung.

Die Konvention sieht im Sexus ein Raubtier, das man in der Öffentlichkeit zwar
an der Kette führt, im Geheimen jedoch das Wildern erlaubt.

Geld und Gemüt verbinden sich schnell und trennen sich nur sehr mühsam.

Trauerzüge demonstrieren disziplinierteste Rangordnung.

Höflichkeit ist oft schon der voreilige Reflex des Geldes.

In der Konvention sind spaßige Bemerkungen Täuschungsmanöver im Auftrage des Ernstes.

Die Bürger starten unter sich ihre speziellen Wettbewerbe.

Kein Geld zu verdienen ist gewöhnlich anstrengender als sehr viel verdienen zu müssen.

*

Altgewordenen Damen sieht man an, wie sie gelebt haben – und wie sie gerne gelebt hätten.

Der Sexus hat ein Inferioritätsgefühl der Eitelkeit gegenüber, und diese
wiederum verneigt sich bis zur Erde vor der Macht des Geldes.

Die Menschen rückversichern sich, indem sie höflicher entlassen als empfangen.

Müde gewordener Reichtum erinnert sich ungern seiner Entstehung.

Weihnachten – der bürgerliche Weinkeller des Gemüts.

Die Verneigung symbolisiert eine später selten eingehaltende Bereitschaft.

*

Doppelgleisig

Sein Gebet erging sich zwischen Flehen und Handeln.

Sie sagen Neutralität und meinen Tarnung.

Ihre Augen erfaßten zugleich die Einkünfte ihres Mannes wie auch die schillernden Freuden des Lebens.

*

Blattschüsse

Der Mann, der bei wachsendem Kindersegen zuerst an Steuerermäßigung denkt, ist ein Sozialerotiker.

Dragonerschritt und flache Brust sind die Kennzeichen der über das Ziel hinausschießenden Amazone.

Der Zahnarzt, der sich ein Haus bauen will, stützt sich auf Prothesen.

Familienoberhaupt wird man auch ohne Inanspruchnahme des Hauptes.

Der Pfaff ist ein Wichtigtuer im Dienste seines unsichtbaren Herrn.

Zeitungsleser, die die Bomben in gute und schlechte einteilen,
könnten selbst einmal in den Bereich einer guten Bombe geraten.

*

Genuss

Er lernte das Leben genießen, nachdem er es genossen hatte.

Sie begannen sofort mit der Liebe und übersprangen das Pathos.

Er verschaffte sich des öfteren ein Glück, dessen Nachgeschmack ihn ärgerte.

*

Defaitismus

Der Weg von der Visage zum Antlitz ist in einem Leben nicht zu bewerkstelligen.

Wenn wir die Meinung unserer Freunde über uns wüßten, begriffen wir alle die Relativitätstheorie.

Der Arzt ohne Menschenschau sieht neuen chemischen Präparaten im voraus dankend entgegen.

*

Abgesang

Erst, als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, begriff er die Lobpreisung auf die Entsagung.

Als Liebhaber begann er mühelos und hörte schließlich als notgedrungener Willensmensch auf, sich so bezeichnen zu dürfen.

Sie heirateten, als sie schon weise waren, und erzählten sich ständig von den Triumphen ihres gelebten Lebens,
bis sie sich, todmüde geworden, gute Nacht wünschten.

*

Trompentenstösse

Der Hund hat von der Straße ungefähr die Vorstellung wie der Freidenker vom Garten Eden.

Männliche Impotenz erzürnt sogar eine Nonne.

Die in der Öffentlichkeit getragene Hose der Matrone ist eine Kriegserklärung an die Jugend.

*

Heimlich Beobachtet

Der Mensch liebt gewöhnlich nur ein- bis zweimal – das andere sind die Prunkstücke der Erinnerung.

Gute Freundschaften leben in Tuchfühlung bei größter Rücksichtnahme auf das Tuch.

Nervenkranke finden das Benehmen von Nervenkranken empörend.

Auch Menschen, die über ein schlechtes Gedächtnis klagen, haben ihre präzisen Erinnerungen.

Bei den Männern über 40 wird aus dem Kopf ein Schädel, aus dem Körper ein Leib,
und aus den Beinen werden Waden.

Vegetarische Gemüter essen mit Vorliebe Fleisch.

*

Der Genuß der Gegenwart wird dem Spießer getrübt durch die Sorge um den Lebensabend.

Korrektes Eheleben besteht aus 3/4 Pflicht und 1/4 Dank an den Schöpfer.

Beim Nachlassen der Hormone wächst die Chance des Himmels.

Man verläßt die Jugend gewöhnlich sehr diskret.

Der Mensch tanzt, um sich von sich fortzubewegen – am liebsten nimmt er hierbei noch einen Partner mit.

Die zweite Jugend hat die Schnelligkeit des Sonnenunterganges.

Wenn zwei Ärzte das gleiche sagen, so leidet die gegenseitige Hochachtung.

*

Stabsfeldwebel und Hotelportiers sind strammstehende Autoritäten.

Die Lebensmitte und die Körperfülle gehen Hand in Hand.

Fotografierte Großeltern sehen sich alle ähnlich.

Wer eine Hintertür in sein Leben einbaut, gebracht sie eines Tages als Hauptportal.

Der Dialekt kleiner Geister liegt vornehmlich in dem, was sie sagen.

Die meisten der besten Freundschaften haben noch keine Zerreißprobe erlebt.

Beim Lachen und beim Gehen begeht der Mensch Indiskretionen gegen sich selbst.

*

Im Selbstbedauern sind wir alle Lyriker.

Auf Genieblitze folgt oft ein langer Regen.

Die Abrundung eines Lebens zeichnet sich gewöhnlich zuerst am Körper ab.

Der unpraktische praktische Arzt ist zum Psychiater geeignet.

Die Liebe im non legato kann ewig währen.

Vorzimmer sind Minenfelder, die es erst zu entschärfen gilt.

Arbeit und Beschäftigung sind zweierlei – die meisten sprechen von Arbeit.

Auf der Flucht lieben wir uns selbst.

Die Menschen haben ein Spezialgedächnis für die Versprechen anderer.

*

En Passant

In dieser Verbindung schielte er nach der Tapententür.

Er gelang ihm immer nur stundenweise, sie über ihr Mißgeschick in der Liebe zu trösten.

*
Ertraglos

Seine Rechtschaffenheit war so flammend, daß sie noch ein Loch in den Himmel brannte.

Sie erwachte immer erst dann, als die Männer schon schliefen.

Seine nicht umrissenen Ziele machten ihn zum Fanatiker ins Leere.

*
Schattenreflex

Wenn ein Ehepaar auch aufeinander herumprügelt, so werden sie doch voneinander berührt.

Sie verglich ihn ständig mit ihrem zweiten Mann, bis es ihm gelang, auch so ähnlich zu lächeln.

Im Genuß des Triumphes, Ungefragtes an den Mann gebracht zu haben, rühmt sie sich vieler Beziehungen.

*
Alltägliche Phänomene

Zwischen dem Anstand und der Unanständigkeit liegt ein übervölkertes Niemandsland.

Die Mittelmäßigkeit kennt bei der Sackgasse den Eingang nur als Eingang.

Wenn eine Hand die andere wäscht, so bleiben beide schmutzig.

Makelloser Durchschnitt schwebt durchs Leben.

Ein losgelassenes Gerücht arbeitet wie ein Floh, der auch einen Ästheten beißt.

*

Steckbriefe

Er kriecht bei überstarkem Selbstbewußtsein.

Ihren letzten Hut ermächtigte sie zum Vollstrecker ihres Abgesanges.

Sein Selbstbewußtsein hat sich in Fett umgesetzt.

In ihrem üppigen Hochwuchs geht sie wie ein Schwan, der gut zu Fuß ist.

*

Unsterblicher Stadtsaal

Männergesangsvereine zaubern klangliche Tode mit alkoholischem Aufersteungsbedürfnis.

Frauenchöre kompensieren in Engelstönen.

Knabenchöre demonstrieren Reinheit ohne Versuchung.

Gemischte Chöre sind Parallelen, die sich erst nach der Aufführung treffen.

*

Individuelle Taktik

Ihre erste kleine Nachgiebigkeit war für ihn der Brückenkopf seines siegreichen Feldzuges.

Er liebte die Schönheit – womit er sich oft entschuldigte.

Sie verführte ihn, auf das er sie verführe.

Die Frauen nährten seinen Dünkel und lebten von seiner Instinktlosigkeit.

Er schmeichelte ihren Fehlern wie seinen Helfershelfern.

Sie vertraute der Gewichtsverlagerung: Sie machte ihm Geständnisse.

Jeder ist sich selbst der Nächste, sagte die Zwanzigjährige, als sie den ältlichen Millionär nahm – der das gleiche dachte.

*

Notlösung

Er kam in die Jahre und heiratete, weil er die Ausnahme fürchtete.

Sie haben sich verlobt: Der Klatsch wird entnervt.

Er schaffte sich einen Hund an, um die menschlichen Triebfedern an der Quelle zu studieren.

Im Varieté X: “…Sie sehen jetzt einige wechseljährige Tanzeinlagen.”

*

Spiritismus

Er sah Gesichter – aber leider keine freundlichen.

Das Geräusch des Holzwurms ließ sie näher zusammenrücken.

Beim Tischrücken sprang das Möbel erst, als ihre Beine sich verschlangen.

Der Geist der Erbtante erschien schon zu Lebzeiten, als von ihrem Testament die Rede war.

*

Kurzstrecke

Sie nahmen sich voneinander, was sie brauchten, und einigten sich auf Verlobung.

Nachdem er sich vom Nihilismus zum Fatalismus durchgerungen hatte, waren seine Kräfte erschöpft.

Ihr geistiger Konkurrenzkampf glich einem Wettrennen zwischen Schnecken.

Die Gerade ihres Lebensweges lag zwischen Range und altgewordener Göre.

*

Subjektive Ideale

Er litt an Größenwahn innerhalb seiner Bescheidung.

Die Schamlosigkeit der Trompete diente ihrem Gesang zum Vorbild.

Als sie deklamierte, war man mitten im Ausverkauf der Höhepunkte.

*

Eingeblendet

Großstadt Krähwinkel: Stadt des diskreten Klatsches und des unsichtbaren Geschmackes.

Kurz vor dem Höhepunkt der Krise: Sie versicherten sich ständig ihrer gegenseitigen Hochachtung.

Vertagt: “…Haben Sie gedacht, ich bin Ihr Feind? Nein, nein, das kann ich mir noch lange nicht leisten.”

Materielle Ungeduld: Sie trennen sich, da ihnen ihre gegenseitigen Probleme keinen Nutzen brachten.

Semper idem: Unglück war für ihn identisch mit unvorhergesehenen Ausgaben.

*

Ohne Bedenken: Es wird vertagt – man fordert den Tod heraus.

Existenzaufbau: Er ist Hotelboy und erlernt die kommerzielle Höflichkeit.

Pleonasmus: Beim Betrachten so mancher Sexbombe gerät auch ein Zirkel in Neid.

Lärmende Bewußtseinsstudie: …schließlich überwachte er sich selbst und kam aus dem Bellen gar nicht mehr heraus.

*

So Mancher…

So mancher wohnt bei manchem in geistiger Untermiete.

So mancher hat mit seinen Augen verschiedene Bestrebungen.

So mancher läuft beim Anblick eines manchen inoffizielle Bestzeiten.

So manchem möchte man zur Wiedergeburt dringend abraten.

So manche Pause bedeutet zugleich das Ende.

So mancher Komplex ist tief berechtigt.

*

Typen Im Blitzlicht

Der Schlaflose multipliziert die Ereignisse.

Der Nervöse ringt um Güte.

Der Geduldige ist gut zu sich selbst.

Den Phantasievollen quälen die Möglichkeiten.

Der Naive spricht nur in direkter Empfindung.

Der Furchtsame datiert vor.

Der Jähzornige erblindet in der Erregung.

*

Der Mühsame erleidet die Aufgabe.

Der Sentimentale klebt an seiner verschlackten Empfindung.

Der Instinkthafte reiht sich ein.

Der Lauwarme ist der Nutznießer seiner Unausgesprochenheit.

Der Einzelgänger spricht intime Dinge nur mit seinem Double.

Der Komplizierte überrascht durch seine Reaktionen.

*

Der Verliebte kompensiert das Unzulängliche.

Der Eifersüchtige lebt nur in der Erinnerung.

Der Wichtigtuer tritt aus Ungeduld in die Pfütze.

Der Empörte erlöst sich in der Übertreibung.

Der Mißtrauische sieht die anderen im Flutlicht seiner Erfahrung.

Der Pedant präzisiert auch seine Fehler.

*

Der Exaltierte übertreibt aus Angst, noch zu wenig zu sagen.

Der Egozentrische übersieht die Tode seiner Umgebung.

Der seelische Masochist regeneriert am Hoffnungslosen.

Der Fanatiker sieht vom Kreis nur einen Sektor.

Der Verführer beginnt in der Konvention und endigt im Unmittelbaren der Improvisation.

Der Süchtige lebt von einer Hypothek, deren Rückzahlung ihm völlig gleichgültig ist.

*

Der Enthaltsame entsaftet das Leben.

Der Primitive befindet sich stets in Gesellschaft.

Der Spötter hört die Obertöne.

Der Unbelehrbare pflegt seinen Irrtum.

Der Arrogante entwickelt sich nurmehr über rückwärts nach vorwärts.

Der Neugierige lauscht gespitzten Ohres auf geheime Preisgaben.

*

Der Phrasenmacher schont sich in erster Linie selbst.

Der Weltmann bewegt sich abgerundet.

Der Provinzler setzt sich auf die Nuance.

Der satte Parvenu lobt die Kunst.

Der Existenzlose zehrt vom Visuellen.

Der Unerbitterliche sieht in jeder Chance die einzige.

*

Der Geck ist das Opfer seines eigenen Schönheitsideals.

Der Streber bitten den Schlaf um die Wachhaltung seines Vorhabens.

Der Intrigant leidet darunter, daß er sich seiner Kunst nicht rühmen kann.

Der Gefallsüchtige zählt die Runzeln seiner Freunde.

Der erotische Opportunist sieht in den Frauen variable Voltzahlen.

Der Snob befestigt seinen Rettungsgürtel an der Dekadenz.

*

Der Ausschließliche geht seinen Weg in rechten Winkeln.

Der Vamp ist der bewußte Verwerter seiner Anziehungskraft.

Der Spaßmacher läuft nur um ein geringes schneller als der Ernst, der ihn verfolgt.

Der Unschuldige ist oft nur erlebnisarm.

Der Ästhet kommt ganz ohne Fußtritte nicht aus.

Der Menschenfreund genießt die Immunität des Ahnungslosen.

*

Der Schwärmerische umgeht die Durchführung seines Lebens.

Der Chauvinist verleiht Gott die Staatsangehörigkeit.

Der Hypochonder befiehlt sich die Wahrnehmung eigener Krankheiten.

Der Humorlose möchte am liebsten seinen Erzeuger wegen groben Unfugs belangen.

Der Ehrgeizige und der Würdige lachen nur aus Versehen.

*

Der Voreilige und der Aufrichtige müssen stets revidieren.

Tröpfe belächeln einander.

Leisetreter bekämpfen sich schwebend.

 

 

— Copyright © Worldpaintings.de. Alle Texte und Abbildungen unterliegen dem Urheberrecht. —
Malerei • Aphorismen • Malpraxis

Schreibe einen Kommentar