Aphorismensammlung von Hans Arndt

Hans Arndt: Literaturkritiker, Aphoristiker und Musikkritiker

Aufgrund von vielen Nachfragen an der Person meines Vaters, dem Schriftsteller Hans Arndt, habe ich zur Erinnerung an seine bekannten Aphorismen diese Extraseite eingebettet, welche einen Einblick in seine Arbeit bietet.

Hans Arndt ist am 17. Oktober 1909 in Stuttgart geboren. Einer seiner Durchbrüche als Schriftsteller war seine Aphorismensammlung “Im Visier” – herausgegeben im Albert Langen und Georg Müller Verlag München, welches 1959 erschien. Hans Arndt vertarb am 13. Dezember 1995 in Hamburg. Das komplette Buch seines Werkes Im Visier finden Sie auf folgenden Seiten zur kostenfreien Einsicht. Hinweis: Bitte beachten Sie das Urheberrecht! Wenn Sie Auszüge zu veröffentlichen beabsichtigen, wenden Sie sich bitte per Kontaktformular an mich. Um sein Werk authentisch zu halten, wurde dieses keiner Rechtschreibreform angepasst.

Teil 1 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt
Teil 2 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt
Teil 3 der Aphorismensammlung Im Visier von Hans Arndt

 

Im Visier

Die Menschen legen sich schnell einander fest und lassen sich so liegen.

Feinde entstehen durch schlechte Erfahrungen mit sich selbst.

Menschliche Beziehungen gleichen einzelnen Stufen und ganzen Treppen.

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Der Durchschnitt bildet die Partei mit der größten Interessenwahrnehmung.

Erfolg wird oft der menschlichen Schönheit vorgezogen.

An eine ungetrübte Freude glaubt nur der Neider.

Die Lüge des Wahrhaftigen ist besonders solide untermauert.

Der Mann ohne Stellungnahme hat entweder Angst, etwas Dummes zu sagen oder etwas Gescheites bereuen zu müssen.

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Die Religion und die Konkurrenz halten den Menschen im Zaum.

Das Gewissen ist die genialste Schöpfung des Teufels.

Der Klüngel mauert sich ein aus Furcht vor neuer Sauerstoffzufuhr.

Seelische Dummheit mit Anstand gepaart wirkt besonders penetrant.

Für manche Menschen ist der Begriff Schicksal die Endsumme vieler nicht ohne ihr Wissen begangener Fehltritte.

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Die Vorwegnahme ist der Scheinerfolg des Spekulanten.

Gefährlich sind die Menschen, die ihre Gipfel nach unten bauen.

Politische Macht humanisiert ihre lautgewordenen Begierden in Gott meineinbezogenen Formulierungen.

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In der Verführung durch Gifte zu senkrechten Höhen ist der Absturz gleich mit einkalkuliert.

Herzinfarkt: Der Generalvertreter des Todes.

Der Tod ist weniger heimtückisch als logisch konsequent.

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Bei vielen bestehen die Hauptmahlzeiten ihres Lebens nur in der Kürze des Naschens.

Vertane Stunden summieren sich zu einem Kapitel, das wir eines Tages als Schulden empfinden.

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Dem reichgewordenen Frommen gelingt die Synthese.

Selbsterworbener Reichtum verargt es dem Tod vor allem, daß er das Geld nicht anerkennt.

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Unsere Schläfen sind biologische Tagebücher zur offenen Einsichtnahme.

Es gibt Fälle, wo die Hoffnung zur schlechten Gewohnheit wird.

Die letzten Altersjahre sind das Kleingeld in der Summe des Lebens.

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Fanale

Sensationen sind hochleuchtende Feuer mit voreiliger Aschenbildung.

Der Tod weiß sehr genau, daß man zwar am Leben, aber niemals an ihm vorbeigehen kann.

Es gibt Menschen, die entschuldigen ihre Torheiten mit Leiden – und ihre Verbrechen mit noch größeren Leiden.

Im Dammbruch der Gedanken ertrinken die Organe.

Kinder sind wandelnde Dokumente von Stunden, die sich aus dem Flüchtigen erstarrten.

Unsere Gesichter bilden den Niederschlag aller uns jemals ergriffenen Gedanken.

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Impressionen

Der Rhythmus der Sonntagsspaziergänger verwandelt die Landschaft.

Stierkämpfe demonstrieren stilisierten Mut.

In den fernen Klängen der Drehorgel lassen wir uns gern von einer Empfindung berühren, vor der wir sonst fliehen.

Auf den Friedhöfen verbünden sich die Blumen mit dem Gesang der Vögel gegen die Bejahung des Todes.

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Quittungen

Als sein Haß zur Ruhe kam, zeigten sich seine Spuren im Gesicht.

Sie liebten sich fünf Jahre – zehn Semester mit nicht bestandener Abschlußprüfung.

Er fiel in seinen Urlaub wie in eine Grube.

Das Meisterstück seiner Verführungskunst bezahlte er mit lebenslänglicher Knechtschaft.

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Im Strom des Allgemeinen

‘Tragisch’ ist oft nur die unmittelbare Steigerung von ‘schade’.

Der Tod steht mit den Genüssen dieser Welt unter Geheimvertrag.

Die leicht hingesagten Ungenauigkeiten sind der Wind, der das Feuer noch unkontrollierter schürt als der Sturm.

Vorurteile sind die bequemen Einstufungen auf ehrfurchtsloser Basis.

Um diese Welt zu verlassen, müssen wir immer andere bemühen.

Viele menschliche Beziehungen gleichen dem Händedruck: Beim Umfassen ist schon die Auflösung enthalten.

Die Brutalität der Welt geht immer weiter – man muß nur das Glück haben, in Ruhepausen zu geraten.

Begehren, berühren, besitzen, besessen – vergessen.

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Konsequenzen

Die kleinen Versäumnisse geben unserem Schicksal die letzte Form.

Wir sind die Opfer unserer Anstrengungen und die Nutznießer ihrer eventuellen Ergebnisse.

Je mehr Masken man zur Schau trägt, desto gefurchter werden die eigenen Züge.

Die Anwesenheit falscher Wünsche bedingt die Abwesenheit von Glück.

Der Anfang eines Unternehmens zeichnet gewöhnlich verantwortlich für sein Ende.

Das, was wir am wenigsten entbehren zu können vermeinen, streichelt uns auch konsequent nach unten.

Die Tragik folgt dem Leichtsinn auf den Fuß.

Intime Beziehungen zwischen Mann und Frau sind zugleich auch die freiwilligen Übernahmen früherer Verschuldungen.

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Verhüllte Tragik

Das Zuspät kommt im Leben immer zu früh.

Die Reife ohne Ernte verblutet an sich selbst.

Der Arme bezahlt die lieblose Macht des Reichen.

Die Menschen heben auch ihren Blick zu Sternen auf, die schon lange nicht mehr über ihnen stehen.

‘Immun’ ist häufig nur die Steigerung von ‘nicht mehr tragfähig’.

Der Trost bedarf selber des Trostes.

Die Macht des Todes liegt im Rückblick.

Kleine Vorwegnahmen sind die Todesbazillen an den einmaligen Chancen des Lebens.

Die Hand bringt auch zum Ausdruck, was sie nicht zu halten vermochte.

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Winke und Aufblick

Man muß weise sein, um das Unabänderliche zu erkennen – und wiederum
sehr fleißig im Weisen, um in Herrlichkeit zu leben.

Den Lebensüberdruß verweise man auch an das Geheimnis der Schönheit,
an die Geste der Hingabe, an die Dezimalstellen der Freude.

Die kleinen Freuden bilden unseren treuesten Freundesstamm.

Entzücken, Glücksgefühl und Überfluß reichen sich die Hände.

Es ist höchste Kunst, die Zeit nicht zu beachten, aber um ihre Ewigkeit zu wissen.

Die Hoffnung erblickt das Licht am Horizont, bevor es noch aufsteigt.

Im Augenblick des Neigens vor der Schönheit ist der Mensch von reiner Güte.

Das Vergessen kann eine große produktive Tat sein.

Die glücklichsten Tage unseres Lebens? – Wir stehen in ständiger Erwartung.

*

Erhellte Distanz

Der Zeitgeist gönnt sich Ruhe, indem er die Annahme sanktioniert.

Die Jugend stellt ein Kapitel dar, das für Erfüllungen nicht flüssig gemacht werden kann.

Das Leben erscheint als Leihgabe: Jedes Jahrzehnt müssen wir um Verlängerung eingeben.

Beim Lesen unserer alten Briefe erschauern wir über den späten Einblick in uns selbst.

Die Eindrücke der frühen Jugend bilden Landschaft und Klima unseres Lebens:
Jede Strukturveränderung bedingt die Mühsal einer Auswanderung.

Tode entzünden sich an nie erfüllter Erwartung.

Ein Jahrzehnt ist gerade ein Flügelschlag im Fluge der Geduld.

Die Abschiede steigern sich im Dasein bis zum großen Abschied vom Leben.

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Gemilderte Wirklichkeit

Der Geschmack ist der Teppich auf der steinigen Straße des Lebens.

Die Fantasie gibt dem unerfüllten Leben seine freundliche Heimstätte.

Der Schlaf dient als schützende Decke gegen die Kühle des Bewußtseins.

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Realität

Er suchte die Orte vergangenen Glücks auf und fand nichts als bereite Gleichgültigkeit.

Sie akzeptierte ihn als Mann und liebte ihn als zukünftigen Vater ihrer Kinder.

Er las seine Weltliteratur in den Gesichtern auf der Straße.

Die Blüten, die sie darreichte, waren der Nachweis eines überdosierten Humus.

Er glaubte die Genüsse des Lebens zu schlürfen und ließ doch nur anschreiben.

Seitdem er mit seinen Späßen Geld verdiente, hörten seine Freunde auf, darüber zu lachen.

*

Flammende Zonen

Wer Dämonen beherbergt, der verführe sie zu seinen Freunden!

Die Flucht ohne Ziel ist ein Wettlauf mit der Kraft des Herzens.

Das Verfallensein kommt einer Verpfändung unserer Seele gleich.

Unsere Opposition erweckt die abseits gestellten Überzeugungen zur Tapferkeit.

Ein exponiertes Bewußtsein stützt sich auf Brandwunden.

Wo das Mißtrauen erwacht, da ringt die Liebe ins Leere.

Die Süße in der Macht des Zarten wird gefährlich im Verhaltensein des lauernden Dämons.

Zusammenbrüche sind die Arme der Engel, die uns vor uns selbst bewahren.

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Erfahrenes Wissen

Das Fazit unseres Lebens schließt jede Stunde ein.

Die Meisterung des Schicksals besteht aus rechtzeitigen Absprüngen.

Erfahrung und Wissen sind Belastungsproben für die Schönheit.

Es liegt im Wesen der Erfüllung, daß sie nicht vorweggenommen werden kann.

Die Erkenntnis geht der Wandlung voraus.

Der Gipfel zwingt erst zur Bewährung beim Blick in die Tiefe.

Um Bereitschaft zu erlangen, muß man fleißig sein im Passiven.

Die übersprungene Erfahrung steuert einen an.

Wir geraten in Schulden, wenn wir unsere Empfindungen nicht ausfühlen.

Das Leben ist unbarmherzig, auch im Ertragenlassen von intensivem Glück.

Erst im Begreifen erfüllt sich das Wissen.

Die Fremdkörper im Schicksal sind am schwersten zu entfernen.

Um eine Sache bis auf den Grund durchzudenken, bedarf es oft mehr des Mutes als des Verstandes.

Niederlagen sind die wahren Freunde unserer Selbstbesinnung.

Die Auswertung des Lebens führt über den Mut.

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Wandlung

Er machte sie zu seiner Geliebten, aber die Liebe formte sie zu seiner Mutter.

Sie versank unter seinen Komplimenten in Trance – und erwachte als Venus.

Er begann um sie zu werben, nachdem sie ihm allzu sicher war.

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Bewegtes Grundwasser

Der Blick in sich hinein erweitert sich zum Panorama.

In unserem Seelenleben liegen zwischen Blitz und Donner oft viele Jahre.

Einer menschlichen Entfremdung begegnen wir wie den ersten kühlen Tagen.

Wer über seine liebsten Dinge spricht, sündigt gegen das Gesetz der Stille.

Wir schauen in unsere Vergangenheit wie auf eine Niederung von Wald, Gestrüpp und Lichtungen.

Der Genuß wird fast zur Mühe, wenn das Bewußtsein hineinflüstert, daß er nicht wiederkehrt.

Die Tragik herrscht da, wo niemand helfen kann.

Resignation ist das Müdewerden unserer Sehnsucht nach Heißgeliebtem.

Wer Erzieltes erreicht hat, wird leicht ein Opfer der Leere.

Der Selbstironie bedienen sich unsere vertieften Schwierigkeiten als befreiende Sonde.

Das, was unser Herz anrührt, bedeutet uns oft eine ungewollte Verzögerung auf dem Wege zu unseren geheimen Wünschen.

Die Leidensbereitschaft nährt sich von unserer Angst, sie am Beginn ihres Existenzanspruches aufzustöbern.

Nach einer menschlichen Enttäuschung bitten wir uns selbst um unsere eigene Freundschaft.

Wir empfinden unsere Traurigkeiten sich verteilen und verzinsen, während
unsere Freude statisch und bescheiden in sich selber ruht.

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Stichflammen

Wutanfälle sind improvisierte Racheakte gegen angestaute Disziplin.

Die Fantasie der Mutter erlebt ihren Höhepunkt in der Angst.

Am schillerndsten sind die Vorteile, die Katastrophen verschleiern.

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Entrücktes Selbst

Er begann sein Glück aufzubauen auf seiner kleinsten, unteilbaren Einheit.

Ihr Widerstand erprobte sich an der verborgenen Bejahung.

Er trank, um seine tote Geliebte wieder zu erwecken.

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Kristalle

Souveränität ist durchlittener Abstand.

Der Schmerz ist der intimste Erzieher des Menschen.

Zärtlichkeit ist verwandelte Kraft.

Treue ist die unmittelbare Folgerung der in der Tiefe ruhenden Empfindung.

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Bereiter Eros

Das junge Mädchen verirrt sich erstaunten Auges in den Zwang der Welt.

Sie fordert von ihm den Glanz des Schöpfung und gewährt dafür die Gunst des Augenblicks.

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Im Rechten Winkel

Wer nicht zu sich selbst steht, verliert sich am Beispiel anderer.

Der Lebenskampf gibt der Hohen Schule des Anstandes seine Bewährungschance.

Begegnungen finden zwischen Menschen statt, und nicht zwischen Interessenten.

Das Nächstliegende zu tun schließt die Vollendung ein.

Der Charakter verleiht dem großen Talent seinen letzten Segen.

Erst die Dinge werden wesentlich, die einander vollkommen ausschließen.

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Isoliert

Er desertierte von sich selbst und mußte erfahren, daß ihn niemand suchte.

Sein Gelächter glich dem bewußten Sprung über den Gipfel in den Abgrund.

Sie ist mit ihrem Herzen in Not geraten, und ihr Verstand steht abseits und schweigt.

Aus seiner Einsamkeit heraus sprach er zu anderen über Dinge, die er sich selbst verschwieg.

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Dunkle Böen

Wehmut entsteht, wo das Vergängliche sich aufdrängt.

Im Nachhall weint das Ende.

Beim Verlassen des Grabes wechselt man den Schritt.

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Leuchtspuren

Tradition ist die helfende Strömung für das vorwärtseilende Talent.

Die Gnade gleicht dem Tempel mit längster Auffahrt.

Der sinnvolle Fleiß gibt sich erst spät ganz zu erkennen.

Bedeutende Erfolge sind auch die Ergebnisse überwundener Krisen.

Sich des Erreichten zu freuen ist oft größerer Lohn als das Erreichte selbst.

Die letzte Zwecklosigkeit erfüllt zugleich ihren erhabensten Zweck.

In gesegneten Augenblicken kommen wir des öfteren schneller vorwärts, als wir es verwerten können.

Der Verstand ergründet dialektisch das Alibi für das zum Vorgreifen getriebene Gefühl.

Im Sichbemühen sind wir noch im Bereich der Ausstrahlung des Fehlers;
erst in dem Sichüberlassen neutralisieren wir den Begehr seinen Einflusses.

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Gezeichnet

Nachdem er die Angst erfuhr, hatte er nurmehr Angst vor der Angst.

Sie war gebeugt durch unbewußte Eindrücke.

Das Leben vergewaltigte ihn zu einer nicht erstrebten Reife.

Als er sich einen Platz an der Sonne ermüht hatte, stand er gerade in ihrem ersten Schatten.

Mit einem Reserveherzen wäre er ein großer Mann geworden.

*

Umwölkt

Unsere Melancholien gleichen den bei untergehendem Licht in Schatten getauchten Landschaften.

Der Landregen beschleicht die Natur wie das Älterwerden den Menschen.

Die Depression gleicht der Ebbe, die traurig vergangenes Leben bloßlegt.

 

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